Für dieses Ziel musste er Steine unter Wasser schleppen. Jetzt ist er angekommen, vom Nichtschwimmerbecken ins Tiefe. Eigentlich doch ein ganz normaler Mann mit Garten und Grill, der Fanta und Würstchen mag.

Praia Grande, Sintra, im Garten. Nic von Rupp wendet die Würstchen. Kleine Chorizos mit Speck. Irgendwo hinter dem Rauch liegt der Ausblick. Der Wald, die Stadt, das Schloss, ein portugiesischer Traum. Im Sonnenuntergang steht ein Bagger, die Bete für die Chrysanthemen wären immer noch nicht gemacht, das nervt Nic von Rupp irgendwo ganz hinten, am Ende seines Bewusstseins. Da paddelt er zwischen Wellenbergen umher, die aus Tonnen und Natur und Gewalt bestehen und muss mittendrin an die Blumen denken, kann doch nicht wahr sein? Es wäre schwer, in Portugal Handwerker zu bekommen, auf die man sich verlassen kann, wenn man den größten Teil des Jahres verreist ist. Aber egal, siehe Ausblick, siehe den Bagger in der Sonne. Für heute ist Feierabend im Süden Europas und die Würstchen sind auch fast fertig. Es werden die letzten kleinen Chorizos mit Speck sein, die Nic von Rupp in diesem Jahr zu sich nehmen wird. Ab morgen heisst es, Steine unter Wasser schleppen, nur noch Training, Avocados und Bananen.

Seit Anfang 2019 ist klar: Der Deutschportugiese wird ab Herbst Teil der diesjährigen Big-Wave-World-Tour sein. Einer jener sechzehn erlesenen Gladiatoren, die die Naturgesetze ihrer Sportart mit ihren Leistungen aus dem Vorjahr auf die Probe gestellt oder ganz und gar für ungültig erklärt haben. Jahr für Jahr entscheidet ein Gremium von Unsterblichen, Surflegenden mit Denkmalstatus also, wer in ihren Adleraugen auf der Weltkarte in den grössten Stürmen am meisten geglänzt hat.

Indonesien, Fidschi, Hawaii, Nic von Rupp war da. Portugal und Irland, Nic von Rupp war da und Kalifornien im Dezember als die Monster kamen, Nic von Rupp ist nicht nur da gewesen, sondern war das Mass aller Dinge. Trotz einer Verletzung im Oberschenkel und stinksauren Physiotherapeuten zieht es den 29-Jährigen kurz vor Weihnachten nach Kalifornien. Ein Tief aus dem Pazifik lässt auf enorme Wellenbewegungen hoffen. Surfer aus der ganzen Welt folgen den grössten und epischsten Voraussagen in der Geschichte des Half Moon Bay. Nic von Rupp ist unsicher. Das könnte seine grosse Chance sein, die World Tour, der letzte Push, eine Welle, die alles entscheidet, ihn in den Augen der Welt zurechtrückt, relevant macht, unumgänglich und unsterblich. Er träumt von nie mehr Ärger mit Sponsoren oder vom Ende seiner Karriere, vom Risiko, vom verletzten Oberschenkel, vom Tod, vom was willst du eigentlich? Und er will ehrliche Gründe von sich wissen, als er in dieses Flugzeug steigt. Eine Erkenntnis, die in seinem Metier lebenswichtig sein kann, manche seiner Kollegen müssen erst fast sterben, um das zu lernen.

Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss, südlich von San Francisco wird er etwas Unglaubliches vollbringen, denn Nic von Rupp surft Mavericks nach links. Klingt erst mal relativ unspektakulär, sind ja nur Worte mit Ort und Richtungsangabe, aber hinter Mavericks steckt eine der gefährlichsten Wellen der Welt, die von weissen Haien und messerscharfem Riff regiert wird. Dort nach links zu surfen ist ungefähr so, wie mit hundert Klamotten gegen Fahrtrichtung über die Autobahn zu ballern. Der Rest der Welt surft in Mavericks nach rechts, weswegen der Rest der Welt an jenem Dezembermorgen den Atem anhält, als dieser Teufelskerl plötzlich nach links zieht, untergeht, ganz viel Atem anhält und wieder auftaucht. Immer und immer wieder, über 20 Wellen lang, bis ihm das Unglaubliche gelingt. Alles rechts von Mavericks ist gefährlich genug, dort sind immer noch Haie und Riff, aber etwas mehr Wasser, das Surfer, Haie und Riff voneinander trennen. Links hingegen passt kaum noch ein Hai zwischen Riff und Wasseroberfläche und wenn man die Schleudergänge überlebt hat, warten am Ende noch Felsen, die mit ihren scharfkantigen Zacken schon auf Nic von Rupp zeigen. Am Fussgelenk reisst dazu noch ein drei Meter langes Surfboard in Torpedoform an der Oberschenkelverletzung, wenn es nicht schon längst gerissen ist, und 500’000 Tonnen Wasser sind bereit, alle Luft und alles Leben aus ihm herauszupressen.

Big Wave Surfing lässt sich ganz leicht anhand solcher Schauergeschichten erzählen, die sich deftig an Klischees und Superlativen bedienen. Aber wie in allen Dingen besteht die Wahrheit einer Geschichte aus ihren Details. Bis heute kam es in diesem Sport allein auf die Größe und die Gefährlichkeit dieser Größe an. Man ließ sich von einem Jet Ski in das Größte ziehen, was man finden konnte und versuchte dann geradewegs und auf schnellstem Wege von der Todeszone zurück ins Leben zu surfen. Es gings ums reine Überleben, um das Bezwingen einer Naturgewalt in spiritueller Ehrfurcht. Nic von Rupp dagegen ist Teil einer neuen Generation, die dieser eindimensionalen Größenformel eine weitere Variable hinzufügen wollen, Größe mal Gefährlichkeit muss Progression sein. Dieser Generation geht es nicht mehr nur darum, zu überleben oder die größten Wellen der Welt in einer Toilettenhocke geradeaus zu surfen, sie wollen die Leichtigkeit und das Spiel der Manöver aus kleinen Wellen ins ganz Große übertragen. Dabei sind Eleganz und Tödlichkeit und der Grad ihrer Konsequenz, von übergeordneter Bedeutung. Diese Generation hat sich Fertigkeiten angeeignet, mit denen sie sich, so nah wie keine Generation vor ihnen, an den Tod heranwagt, ja fast spielerisch über ihn hinausgeht, weil sie erst dort anfängt, wo andere aufhören anzufangen, oder sterben. Diesen Rausch kann kein Fernsehen transportieren, kein Video der Welt. Man muss dasitzen, rechts von Mavericks und das Donnern hören, den Regen spüren, ohne das da weit und breit ein Wölkchen oder Gewitter wäre. Man muss den Horizont verschwinden sehen und die Finsternis unter sich treiben sehen. Es gibt keine Metaphern für solche Wellen, weil es auf der Erde nichts gibt, das ihnen gleicht.

Vier Jahre arbeitet Nic von Rupp an der Umstellung von kurzen Sechs-Fuss-Surfbrettern hin zu den Planken, mit denen sich die Wellenmonster durch blosse Manneskraft bezwingen lassen. Jedes Jahr ein Fuss mehr. Wie ganz schnelles LKW-Fahren-lernen auf einer Formel-1-Strecke ist das. Seine Karriere ein einziger Kampf um das Relevant bleiben, denn die Konkurrenz schläft nie, irgendwo auf der Welt ist immer Tag, immer ein Sturm und immer einer, der ihn reitet. Das Internet ist voll davon und die Sponsoren ziehen ihre Register. Der moderne Big-Wave-Surfer ist Big-Wave-Surfer, Manager, Ehemann, Familienvater und Marketingstratege in einem. In Nic von Rupps Fall sogar noch Gärtner. Diese Männer setzen ihr Leben aufs Spiel, werden bewusstlos, spucken Blut und können vom Blut spucken kaum ihre Familien ernähren, die nebenbei schon genug mit ihnen leiden. Big-Wave-Surfer sein ist kein Traum, es ist ein Alptraum, ein Zwang, kein Vollzeitberuf, sondern eine Mission, deren Ziel sich verdammt nochmal alles in ihrem Umfeld unterzuordnen hat. Der Beste sein, nicht folgen, sondern vorausgehen wollen, koste es, was es wolle, klingt so Egoismus? Jener Egoismus, den ein Sport auf allerhöchstem Niveau erfordert, sei es Big Wave oder Curling, einen Preis zu zahlen, vielleicht sogar mit dem eigenen Leben? Wie süchtig kann Ziel erreichen machen, wenn der Weg dorthin so lang und das Ziel so hoch und das Erreichen nur so kurz ist?

Nic von Rupp Mavericks
Das ist die Linke von Mavericks. Bild: Seth de Roulet.

2017 setzt von Rupp alles auf eine Karte: Er will die Innovation seiner Sportart anführen, nicht nur folgen, er will auf die Big-Wave-World-Tour. Schluss mit Jet Skis, die im übertragenen Sinne eine Tour de France zum Motorradrennen machen würden, schluss mit Rumgeplänkel in Wellen ohne Konsequenzen, wie man im Surfjargon so schön sagt. Die Folge: Steine schleppen unter Wasser, Kardiotraining achtmal die Woche, Apnoetraining und Workouts in vier Metern Tiefe, fünfzehn Kilometer übers Meer paddeln, Meditieren und Stunden auf der Psychologencouch, um mit all der Angst umzugehen. Von so viel Angst spricht Nic von Rupp beim Grillen, mit so viel Angst müssen sie umgehen, so viel Angst. Sie alle, selbst die Kai Lennys, die Billy Kempers und Lucas Chumbos, selbst, die, die es nie zugeben. Sie bestehen genauso nur aus Kilogramm und Metern, während Wellen wie Mavericks aus Tonnen und Kubikmetern und Riffen und Haien gemacht sind. Die Angst ist da, wenn der Mensch gegen seine Natur antritt, man muss mit ihr umgehen. Wer das nicht schafft, stirbt, schon wieder.

Nic von Rupp Mavericks
Im Weisswasser der Mavericks Left. Bild: Seth de Roulet.

Die Big-Wave-World-Tour besteht aus Nazaré, Mavericks und Jaws. Sie beginnt im Oktober. Nazaré ist Nic von Rupps Heimspiel, sein Triumph, ohne Nazaré könnte Nic von Rupp wohl kaum bestehen, obwohl er hier keineswegs seine besten Resultate eingefahren hat. Nazaré ist im letzten Jahrzehnt zum Zentrum der Big-Wave-Welt geworden. Einer Art Forschungszentrum, in dem Mensch und Material auf ihr äusserstes getestet werden. Sie bietet die extremsten Trainingsbedingungen unseres Planeten. Wer hier überlebt, kann trotzdem überall sterben. Diese Welle spaltet die Welt, an ihr reiben sich die Egos Wund bis auf den Neid, plustern sich die Testosteronbrüste, die das Big-Wave-Surfing so gerne hinter all der brüderlichen Kameradschaft verstecken würde. Big Wave Surfing ist eine Ellenbogengesellschaft, in der jeder sein Stück vom Ozean abbekommen will. An Nazaré führt kein Weg mehr vorbei und Nic von Rupp zeigt ihnen wos langgeht. Die Welt kommt hier her und ist auf sein Wissen und seine Infrastruktur vor Ort angewiesen, Jet Skis, Marinevorschriften, Sprachbarrieren, Funker. Alles auf das Nic von Rupp angewiesen ist, wenn er nach Jaws kommt. Seit es Nazaré gibt, rollt man ihm dort den roten Teppich aus.

Jaws ist die Königin im Reich der großen Wellen und bricht vor Maui im US-Bundesstaat Hawaii. «Der Kiefer», wie sie liebevoll von den Inselbewohnern genannt wird, zielt auf die Heftigkeit ab, mit der die Wellenlippe über dem Riff explodiert. Jaws ist Nic von Rupps Schwachstelle. Hier hat er das Monster im Rücken, denn es handelt sich um eine nach rechts brechende Welle, dazu der starke ablandige Wind, der diesen Surf-Spot so weltberühmt und berüchtigt macht. Wenn Nic von Rupp beim Grillen von Jaws erzählt, verfinstert sich sein Blick und er fängt wieder an übers Gärtnern zu sprechen. Jaws ist kein gutes Thema.

Wie man sieht, Nic von Rupp ist ein ganz normaler Mann, sicher ein guter Nachbar, der eben Monsterwellen gesurft hat, wenn andere von der Arbeit kommen. Nur wenn er Stress im Job hatte, ist das meistens mit Knochenbrüche verbunden. Er hat einen Garten und einen Grill und Probleme mit Handwerkern, so wie jeder andere auch. Er mag Würstchen und Fanta, am liebsten mag er Essen mit Gluten, nicht weil das schmeckt, sondern weil es ihm am allerverbotensten ist. Er hat sein Ziel erreicht, geschafft, die World Tour, aber das nächste Ziel lauert schon am Horizont, er will es nur noch nicht sagen. Bis zum ersten Stopp in Nazaré sind es noch zwei Monate, aber er wird sich nicht mit Big Wave Surfing auf Big Wave Surfing vorbereiten, sondern dem Kardioplan treu bleiben, den ihm sein Trainer aufgehalst hat. Er macht gerne seinen Trainer für den engen Zeitplan seiner Ziele verantwortlich, die er sich selber gesteckt hat und bis zum Tour-Start muss er irgendwie noch Trauzeuge in Kroatien sein und seine Freundin will für ein paar Tage nach Ibiza. Das normale Leben macht Druck, vergiss nicht, das was am Ende dann alles ist, oder eben doch nicht?