Man sieht sie überall im peruanischen Huanchaco. Vor Hotels, auf Werbeplakaten und an Stränden stehen sie: Die Caballitos de Totora, was übersetzt in etwa «Schilfpferdchen» heisst.

Sie sind der Grund, weshalb Huanchaco 2012 zum fünften «World Surfing Reserve» ernannt wurde. Sie sind der Grund, weshalb Peru mit Polynesien um den Ursprung des Surfens diskutiert. Hinter diesen einfachen Bastbötchen versteckt sich eine alte Geschichte, schwanger an Bedeutung und Tradition.

Die Schiffchen
Über die Jahre hatten die Bastbötchen viele Namen. Der geläufigste heute ist «Caballito de Totora». Diesen Namen gaben den Bötchen die Spanier, als sie Peru kolonialisierten. Vorher waren sie unter den Namen «Balsillas» bekannt. In älteren wie in neueren Erzählungen werden sie auch «TUP» genannt. Der Name der Spanier leitet sich einerseits von dem Material ab; dem Schilf (Totora), das in der Umgebung en masse wächst. Andererseits von der Art und Weise wie die Peruaner die Schiffchen bemannen – meistens sitzen sie auf ihnen wie auf einem Pferd. Ein TUP misst ca. 12 Fuss, ist innerhalb von zwei Stunden gebaut, hält aber bei vielem Gebrauch nur ca. 2 Monate. Mittlerweile wurden viele Totorafelder geschützt, um die Produktion der TUPs zu gewährleisten. Sie werden noch heute von den Einheimischen zum Fischen genutzt. Dafür paddeln sie hinter die Wellen und platzieren dann ihren Fang in der Einbuchtung des Caballitos. Um wieder an Land zu kommen, paddeln sie in die Welle und stehen zum Teil auch auf, wie die Surfer. Touristen können für ein paar Soles versuchen, die schweren Caballitos de Totora zu surfen, doch hauptsächlich sind sie noch immer Einnahmequelle peruanischer Fischer.

Alter Fischer in einem Caballito de Totora
Ein älterer Fischer in einem Caballito de Totora.

Fünftausendjährige Geschichte
Schätzungen zufolge sind die TUPS zwischen 5’000, 4’000 und 3’500 Jahre alt. Ein etwas grosses Zeitfenster. Fest steht aber, es gibt sie schon lange. Neuste archäologische Funde bestätigen ein Alter von 3’500 Jahren in Form eines Mini-Caballitos aus Schilf. (Noch) nicht bestätigte Theorien gehen aber von einem höheren Alter aus. In den Ruinen der Huaca Prieta zum Beispiel findet man mögliche Hinweise, dass die TUPs schon vor 4’000 Jahren zum Fischen unweit des Strands gebraucht wurden. Und in den Ruinen von Caral wurden Schilffunde gemacht, was das Alter der TUPs sogar auf 5’000 Jahre schätzen lässt. Auch wenn sich die Forscher über das Alter der Schilfpferdchen uneinig sind, ihre Bedeutung ist unumstritten.

Der Legende nach entschloss sich eines Tages ein junger Mann aus einem Yunga, wie die fruchtbaren Täler an der Küste Perus genannt werden, ein Bötchen zu bauen, mit dem er hinter die Wellen gelangen kann. Denn schon länger beobachteten die Fischer der Yungas die Pelikane, die jenseits der Wellen fischten und fragten sich, welche Fänge wohl hinter den Wasserwalzen auf sie warteten. Die Wellenlinien in Peru ziehen sich fast das ganze Jahr über der Küste entlang und galten vor allem damals als undurchdringlich. Der junge Mann machte sich also an die Arbeit und entwarf ein Bötchen, welches auf das Meer hinaus, aber auch wieder hineinkommen konnte. Nach 100’000 Versuchen entstand schliesslich das TUP, das wir heute kennen.

Das Erbe der Mocha und Chimu*
Im Gegensatz zur Altersbestimmung lässt sich viel über die Bedeutung der Caballitos de Totora anhand der gefundenen Keramik sagen. Die ersten Aufzeichnungen lassen sich auf die Jahre 800 bis 600 v. Chr. datieren. Das Meer galt für die Bewohner von Peru in allen Jahrhunderten als Hauptnahrungsquelle, da das Land nicht sehr fruchtbar ist. Die Hauptstadt der Chimu, Chan Chan, weist sogar die grösste Verbindung zum Meer auf in der ganzen Geschichte Amerikas. Die grössten Schreine sind Meeresgottheiten oder dem Mond gewidmet, welcher für die Ebbe und Flut wichtig ist. Korridore, Säle und Tempelanlagen sind mit Fischernetzen, Wasservögeln, Meerestieren und sogar dem Humboldtstrom verziert.

Wellen symbolisierten für die Mocha und Chimu die universelle Kraft und den Ursprung der Kraft aller Yungabewohner. Auf vielen Malereien und Keramik findet man auch die Caballitos de Totoras, welche, neben der offensichtlichen Bedeutung fürs Fischen, gemäss Forscher auch eine zeremonielle Bedeutung hatten. Das Reiten eines dieser Boote war eine Initiationsprüfung (Aufnahmetest) für junge Männer. Die Aufgabe bestand darin mit dem TUP hinter die Wellen zu gelangen, einen Fisch zu fangen, den Kopf dessen an die Spitze des Caballitos zu stecken und mit einer Welle wieder herein zu surfen. Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe dazumal lässt sich mit einem anderen Initiationsritus aus dem Dschungel zur gleichen Zeit vergleichen; das Töten eines Jaguars. Man geht davon aus, dass das Surfen der TUPs aufgrund dieser Prüfungen auch aus Spass gemacht wurde. Wahrscheinlich gab es sogar schon Wettkämpfe.

José Kané Ramos Ucanan surft ein Caballito de Totora
José Kané Ramos Ucanan surft ein Caballito de Totora.

Huanchacos und Polynesiens Verbindung
Wenn die Theorien der Schilffunde in den Ruinen von Caral bestätigt werden, wäre Peru bzw. Huanchaco der Ort, an welchem die erste Form von Surfen ausgeübt wurde. Somit würde es Polynesien um ungefähr 1’000 Jahre schlagen. Interessant dabei ist, dass eine eventuelle Verbindung zwischen den zwei surfenden Völkern schon früh bestand. Wie so oft in der Völkerforschung sind sich die Wissenschaftler nicht einig, von wo oder von wem die Chimus genau abstammen. Die am meist verbreitete Theorie ist, dass sie von den Überbleibseln der Mocha-Kultur abstammen. Die Legende der Chimu aber geht davon aus, dass ein mächtiger König mit seinem Balsafloss an der Küste Perus an Land kam und sich mit einer einheimischen Frau vereinte. Die grosse Verbindung zum Meer ergibt sich gemäss dieser Geschichte nicht nur aufgrund des Hauptnahrungskanals, sondern auch durch die Herkunft des Volkes. Daher geht eine andere Theorie davon aus, dass die Chimu von Polynesien an die Küste von Huanchaco kamen.

Caballito de Totora am Strand
Polynesien oder Peru – wo liegt der Ursprung des Surfens?

Noch interessanter wirds, wenn man diese Theorie mit der Expedition «Kon Tiki» von Thor Heyerdahl vergleicht: Der norwegische Forscher wollte 1947 beweisen, dass Polynesien von der südamerikanischen Küste aus besiedelt wurde. Er segelte 101 Tage lang auf einem Floss von Lima bis nach Polynesien. Dabei liess er sich hauptsächlich von den vorherrschenden Strömungen leiten und schaffte es ohne moderne Hilfsmittel bis nach Tahiti. Auch wenn die Theorien, dass die Polynesier von Südamerikaner abstammen und die Chimu-Kultur wiederum von Polynesiern, umstritten sind, sind sie für die Surfgeschichte interessante Sichtweisen. Müssen schlussendlich die Polynesier und Peruaner gar nicht um das Ursprungsrecht kämpfen, sondern teilen es sich schon längst? Eine Frage und Theorie, mit welcher man sich in wissenschaftlicher Hinsicht weit aus dem Fenster lehnt. Jedoch ist ein Surferherz immer offen für wagemutige Theorien und Geschichten.

Caballito de Totora heute
Caballitos de Totora mit Fischernetz heute.

*Die Mocha-Kultur ist eine Präinka-Hochkultur, welche ungefähr ab dem 1. bis ins 9. Jahrhundert in der Nähe von Huanchaco angesiedelt war. Die Hochkultur der Chimus zählt als ihr Nachfolger (ab ca. 950) und existiere parallel zum Inkavolk, bis sie ungefähr 1470 von den Inkas erobert und in ihr Reich eingegliedert wurden.