Paradies oder Paradise Lost? Sind wir Surfer in Wirklichkeit egoistische Klimazerstörer, die zum globalen Pay Gap beitragen? Oder brauchen einige Regionen den Surftourismus, um wirtschaftlich stabil zu bleiben? Wie komplex sind solche Fragen und sind sie überhaupt verständlich? Und liegt die Wahrheit wirklich immer in der Mitte?

Strohhalme
Ich sitze in einem Café in Zürich und geniesse meinen Ananas- Limetten-Honig-Smoothie. Ich beobachte meinen Papierstrohhalm, wie er sich langsam vollsaugt und weich wird. Wabbelige Geschichte. Zusätzlich lausche ich, geschützt durch Sonnenbrille und Smartphone, dem Dialog der benachbarten Gäste. «Ich finde die Flugwerbungen der Swiss in Zeiten des Klimawandels echt hart.» «Hey, das kannst du so nicht sagen, immer diese negative Einstellung von dir!», wird entgegnet, während ich neugierig mein Ohr ausrichte. «Woah, darf man gar nichts mehr sagen? Darf man sich nicht mal Luft machen oder Kritik üben? Oder verstecken wir uns nur alle hinter der Wand der Konformität, die heutzutage sowieso nur Wall of Positivity Like-Button-Bullshit ist? Die Kellnerin unterbricht den Dialog und fragt nach der Bestellung, doch der Gesprächsfetzen lässt meine eigenen Gedanken abdriften. Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz, dass wir uns selbst im geschützten Rahmen der Unöffentlichkeit social-media-konform verhalten? Dort, wo man stressfrei man selbst sein könnte, ohne Urteil durch andere. Empathie statt Urteil. Oder doch: Good vibes only?

Malediven
Natürlich ist die Flugproblematik thematisch nicht ganz das Gleiche wie der Impact, den wir als Touristen vor Ort hinterlassen. Bitte verzeih, wenn dieser Text nicht der vollständigen Komplexität des Themas gerecht wird. Wie kann ich über die Malediven und den letzten Trip dorthin sprechen, ohne wie ein Griesgram zu wirken oder dich, liebe Lese:rin, runterzuziehen? Bedenke beim Weiterlesen das Folgende: Im besten Fall denken wir alle ein bisschen mehr nach und schreiten Stück für Stück aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Idealerweise endet das Nachdenken auch im Handeln. Solche Sätze lesen sich wie starker Tobak. Flitterwochenpostkartenziel, teuer, tauchen, Korallen, blaues Wasser und weisse Strände. Das assoziieren die meisten mit dem Wort «Malediven». Doch hinter der idyllischen Fassade verbergen sich erschreckende Fakten:

  • Jedes Kilowatt Elektrizität wird per Dieselgeneratoren produziert. Die aktuell gewählte Regierung verspricht, wie die davor, Tidenturbinen zu installieren, um die Energie des Wassers zwischen den inneren Atollen und dem offenen Meer zu nutzen.
  • Der durch Tourismus generierte Wohlstand kommt selten bei den Einheimischen an, wie Gespräche vor Ort und Artikel zum Thema Korruption, inhaftierte Demokraten sowie der subjektive Eindruck vor Ort vermitteln.
  • Pro Tourist entstehen zwischen 1 kg und 2 kg Müll pro Tag, das meiste davon Plastik. § Die Malediven verbrennen ihren Müll vor Ort, das meiste auf einer Insel. Dort arbeiten Bangladescher, oft umhüllt von rotleuchtendem Qualm, um das Feuer stets weiter lodern zu lassen.
  • Das komplette Abwasser eines jeden Menschen wird ins Meer geleitet.
  • Häufig haben die majestätischen Walhaie vor Ort Narben auf dem Rücken. Die Guides fahren schneller, als die Walhaie ausweichen können (illegal offiziell), damit mehr Gruppen pro Tag zum Schnorchelspot kommen. Schiffsschraube, Walhai… du verstehst.
  • Pro Jahr sind mehr als eine Million Touristen auf dem Archipel. Vor Covid waren es etwa zwei Millionen. Rechne selbst.
  • Die Einflussnahme Chinas sowie Indiens ist enorm und politisch komplex, sowie nicht nur im Sinne der maledivischen Bevölkerung. § Die ersten 1,5m unter der Wasseroberfläche zeigen dir graues, totes Riff, da das Wasser global zu warm geworden ist.
  • 2050 werden 80% des Landes nicht mehr bewohnbar sein, da die Wasserpegel steigen.
  • Das «Global Pay Gap» spreizt weiter seine Schenkel und offenbart finstere Abgründe auch hier: Die teuer zahlenden Gäste werden in kleinen Wasserflugzeugen einzeln zu ihren Resorts geflogen.
  • 66,5 Prozent des BIP stammen aus dem Tourismussektor, der die meisten dieser Fakten erst zur Realität macht.

Laut gedacht
Was tut das alles nun mit dir, liebe:r Leser:in? Wendest du dich ab und folgst dem Lustprinzip? Liest du weiter, obwohl du dich unkomfortabel fühlst? Enttäusche ich deine Erwartung an das Magazin, das Kurzweil und Surfcontent verspricht? Die Welle deines Lebens, perfekte Barrels, Geschichten über Seeigel und verlorene Boards, Fahrten mit dem Doni (mittelgroßes Taxiboot) zum nächsten Spot, müde Schultern und grosse Augen nach der Session, teure Cola, billiges Kotu Roti, geteilte Momente mit guten Freunden. Diese Liste der wünschenswerten Erinnerungen gibt mir ein warmes Gefühl im Herzen. Allerdings nicht nur. Flight-Shaming mal aussen vor. Ohne Diskussion sind Flüge für persönliche Verwirklichung unnötig. Trotzdem fliege ich. Macht mich das zum Heuchler? Das Ego der westlichen Selbstverwirklichung und Surfbegeisterung ist stark in mir, wie in vielen von euch auch. Der nächste intravenöse Shot für unser Gehirn, bestehend aus wellenreitsportinduzierten Glückshormonen, ist zum Greifen nah. Ein Flug, Wachs aufs Brett und los. Herrlich. Der nächste Insta Shot, die nächste externalisierte Validierung in Form von Likes und Kommentaren warten schon, auch nur einen Flug entfernt. Nach mir die Sintflut, vor mir die Wall von Sultans bevor sie eine Tube bildet. Nice. Oder?

Zwei Thesen
«Deshalb folgt auf jede Tourismuskritik automatisch eine Gegenthese, die umso unwiderlegbarer erscheint, als sie auf ökonomischen Argumenten fusst. Etwa, dass Thailands Rotlichtbranche einen Umsatz von 27 Milliarden Dollar pro Jahr aufweist und damit 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts bestreitet.»
– Michael Stuhrenberg, NZZ

«Nicht nur erschweren Landnahme, übermässige Beanspruchung von Strom-, Wasser- und Nahrungsressourcen sowie Verschmutzung oder Artenverlust andere Wirtschaftstätigkeiten. Wenn die Klimaziele wegen der zunehmenden Fliegerei nicht erreicht werden, gefährden Dürren, Überflutungen und Extremereignisse das Überleben von Millionen von Menschen.»
– Prof. Gössling, Universität Lund

Und wenn wir uns an fernen Stränden sonnen, möchten wir dabei nicht ewig hören, wem wir dadurch schaden… oder? Man stelle sich vor, chinesische Touristen im Jahr 2035 fluteten unsere europäischen Kulturstätten, wie wir dies mit Thailand, Mallorca, Südfrankreich oder anderen bekannten Beispielen getan haben werden. Oder du schlängelst dich durch mehrere hunderttausend asiatische Touristen gleichzeitig in Zürich, die dich weiter aus der Stadt drängen. Stichwort Airbnb, gewerbliche Angebote und Gastronomie. Wie ginge es dir damit? «Wir sind der tanzende singende Abschaum der Menschheit.» – T. Durden aus Fight Club, C. Palahniuk Nihilismus und Freizeitmisanthropie als Rechtfertigung für unseren Egoismus scheinen mir nicht geeignet. Auf andere in ihren Privatjets verweisen? Macht meine Entscheidungen auch nicht klimafreundlicher. Möglicherweise müssen wir das Paradox aushalten und unser Bestes tun. Was denkst du? Vielleicht liegt der Schlüssel darin, bewusster zu reisen und sich der Auswirkungen unseres Handelns bewusst zu werden. Kleine Veränderungen im Verhalten, wie nachhaltigere Reiseentscheidungen und ein respektvollerer Umgang mit den besuchten Orten, können einen Unterschied machen. Am Ende des Tages geht es darum, Verantwortung zu übernehmen – für unser Handeln und die Welt, die wir hinterlassen. Lasst uns die Freude am Surfen und Reisen bewahren, aber dabei nicht vergessen, auch auf die Umwelt und die Menschen vor Ort Rücksicht zu nehmen. Nachhaltigkeit beginnt mit Bewusstsein. Was wirst du bei deiner nächsten Reise anders machen?