Warum persönliche Freiheit während der Pandemie zu vermissen nicht per se Egoismus sein muss.

«Wir sind die Zweitgeborenen der Geschichte, Leute. Männer ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen grossen Krieg, keine grosse Depression. Unser grosser Krieg ist ein spiritueller, unsere grosse Depression ist das Leben.»

So spricht die Figur Tyler Durden im Film Fight Club in dem Zentrum des Kreises der Männer, die durch ritualisierten Zweikampf nach Zugehörigkeit und Identität suchen. Das Zitat passt gut zur aktuellen Krise.

Wir sind eine Generation ohne die Bürden unserer Grosseltern oder ohne die grossen gesellschaftlichen Kämpfe unserer Eltern für Gleichberechtigung (z.B. Wahlrecht der Frau). Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, schienen bis vor ein paar Wochen eher daraus zu bestehen, sich selbst zu optimieren, sich in den sozialen Medien populär darzustellen, sich dafür zu interessieren, wie man gesellschaftlich aufsteigen kann. Das eigene Leben einem maximalen Hedonismus zu widmen, ist wohl für viele die Realität gewesen. Eine Vielzahl an Möglichkeiten des Life Designs und der digitalen Identitäten stellten viele vor die Sinneskrise.

Die zentraleuropäische Kultur ist im Vergleich zu den meisten Gegenden dieses Erdballs zu einer Luftblase aus Wohlbefinden geworden, die gleichzeitig durchzogen ist von Depressionen und Selbstfindungsproblemen, von Selbstzweifeln und Existenzängsten. Von Suiziden und unglücklichen, einsamen Menschen. Die Brücke zwischen den Widersprüchen gibt es nicht, unser grosser Krieg ist ein spiritueller.

In diesen psychischen goldenen Käfig werden wir hineingeboren, auf der Suche nach einer Aufgabe, nach einem Sinn, nach Bedeutung. Der Mensch sucht nach Spuren von sich in der Welt, die ihm sagen, wer er ist. Einfluss zu nehmen auf das Äussere schafft Sinn und sorgt für einen Spiegel der eigenen Bestrebungen. In diesen können wir hineinsehen und uns wiederholt fragen, wer wir eigentlich sind. 

Seit den Existenzialisten scheint klar, wir haben stets die Wahl, zwischen mindestens zwei Möglichkeiten zu wählen. In dieser Wahl sind wir frei, spüren die Verantwortung auf unseren Schultern, zu der wir verurteilt sind. Du entscheidest, oder die Welt für dich. Viele von euch und uns entschieden sich, dem Wellenreiten, Snowboarden, Skateboarden oder ähnlichem Sinn beizumessen. Denn ohne unser Urteil hat kein Ding Sinn. Erst durch unser Sein, unsere Einstellung zur Sache und unsere Bewertung entsteht Sinn. 

Da scheint mir Surfen eine interessantere Wahl als ein Mercedes oder ein möglichst hoher gesellschaftlicher Status. Hochachtung gegenüber jedem, der sein Leben etwas widmet, was für alle das Leben leichter macht. Ärzte, Pflegekräfte, Polizisten etc. halten die Gesellschaft gerade am Laufen und ihnen gehört unser Respekt. Darf man angesichts der Situation ans Surfen denken? Ist man nicht ein Egoist?

Der Ausbruch des Grippevirus scheint als Unterlage zu dienen, den spirituellen Krieg zu beenden und wahrhaftige Wichtigkeit, Krise und Bedeutung zu spüren. Die Familie schützen, sich einen Vorteil verschaffen, andere auszugrenzen und das eigene zu sichern. Klopapierkäufe sprechen doch für diese These, oder? Wie erklärt man sich sonst das Objekt der Begierde? Das Klopapier als Symbol der existenziellen Grundversorgung, Freud’sche, anale Besitzanhäufung wird real und die Parodie ist die Realität. Das hat etwas komisches, wobei die Komödie schon bei den Griechen immer ein Teil der Tragödie war.

Auch ich belächle immer noch Klopapier-Hoarder, ist es doch aber menschlich. Brechen wir eine Lanze für die Klopapierkäufer! Sei frei, wo du niemandes Freiheit beschneidest. In diesem Fall kaufe also nicht alle Desinfektionsmittel und Hygieneartikel weg, sonst hat jemand anderes vielleicht gar keins. Da ich eine Dusche zuhause habe, mache ich mir persönlich vorerst keine Sorge, um einen immensen Nachteil aus einem Mangel an Klopapier. Also fühl dich frei, deine Sicherheit in Form von mehrlagigem, sanften WC-Papier zu suchen, halte es fest im Arm auf dem Weg zur Kasse, sichere es in deinem Vehikel auf dem Weg zu deiner Höhle.

Surfer auf aller Welt fragen sich nun in den letzten Tagen, wie komme ich am schnellsten ans Meer und wie sieht es mit meinem gebuchten nächsten Surftrip aus, gibt es billige Flüge für in ein paar Monaten? Dafür ernten viele in den Kommentarspalten und Foren Kritik, oder werden gleich gebasht. Online gibt es aufs Dach, wenn jemand nach Möglichkeiten sucht, den Surftrip trotzdem hinzukriegen. Häufig wird es als egoistisch verurteilt, wenn jemand die eigene persönliche Freiheit und das Ding von Wert, das Wellenreiten, vermisst oder auf Möglichkeiten des Fortbestands untersucht. Dabei ist es doch verständlich? Jugendliche und Kinder wollen raus, viele vermissen jetzt schon das Draussensein und die Normalität. Wie schon gesagt, wo ich des anderen Freiheit oder sogar Gesundheit nicht gefährde, bin ich frei im Sein. Wieso also jemanden anfeinden, der sich fragt, was er positives aus dieser gesellschaftlichen und gesundheitlichen Krise gewinnen kann, indem er nach Wegen sucht, seine Sache von Wert fortbestehen zu lassen?

Einen Appell an das Wohlwollen, das Verständnis und das Hinterfragen der eigenen moralischen Überlegenheit möchten wir an euch richten
Über andere zu urteilen fällt leicht, wir leben in Zeiten der emotionalen Wahrheit, anhaltender Empörung, des Egos, der Fakenews. Wenn diese Begriffe für dich auch Überdruss verursachen, tu etwas dagegen. Lasst uns doch Empathie statt Urteil in den Vordergrund stellen. Den nächsten Surftrip nicht antreten zu können, ist fürn A****h. Das versteht wohl jeder. Weil man das sagt, bedeutet das nicht gleich, dass man den Surftrip für das Wichtigste hält und alles andere für unwichtig. Lasst uns mit Nachfragen auf Interpretation reagieren und die Zeit zuhause nutzen für Yoga, Vorbereitungstraining, ein gutes Buch, ein Telefonat mit den Liebsten, Sprachen lernen, Musikinstrumente üben oder sogar für politisches Interesse…

…wie wäre der Blick zu den Grenzen der EU, in ärmere Länder und/oder weniger gut versorgte Regionen momentan. Dort, wo die Solidarität unserer Gesellschaft endet, zeigt sich unser Charakter während der Krise. Also sei genervt, da dein Flug nach Indonesien eventuell ausfällt, bau deine Burg aus Klopapier und überlege dir bitte auch, an einem anderen Ort zu helfen, wo die Hilfe gebraucht wird. Zum Beispiel bei den Ärzten ohne Grenzen.