Kahena lebt seit letztem Sommer in Canggu. Der Grossteil der Expats und Touristen flogen aufgrund Corona nach Hause, sie beschloss zu bleiben. Ein Bericht über die letzten vier Monate auf Bali.

Es ist noch dunkel, als mein Surfkumpel und ich den Strand entlang laufen um Batu Bolong in Canggu zu surfen. 5:37 Uhr um genau zu sein. Zwischen der «Banjar» (getrost vergleichbar mit einer selbsternannten Nachbarschaftshilfe) und den verbleibenden Surfern und Strandgängern herrscht eine unausgesprochene Vereinbarung: Die Strände in Bali sind seit Ende März alle geschlossen, um «Social Distancing» zu wahren. Doch vom Morgengrauen bis ca. 7:30 Uhr sind Surfen, mit dem Hund spazieren und sonstige Aktivitäten am Strand noch erlaubt. Ein fairer Deal.

Wir scheinen die Ersten zu sein! Plötzlich eine Sirene, Scheinwerfer gehen an und leuchten in unsere erschreckten Gesichter. «Go home!», tönt es aus Lautsprechern. Peinlich berührt und mit klopfenden Herzen nicken wir, drehen um und verlassen den Strand. Mit den Patrouillen der «Banjar» ist nicht zu spassen! Vor ein paar Tagen wurden die Scooter von renitenten Echo-Surfern (Echos, eine etwas schnellere, barrelnde Welle in Canggu) umgestossen und die Luft aus den Reifen gelassen. Anscheinend wollten die surfenden Herren dem Pfeifen und Rufen der Strandwächter partout nicht folgen und hockten den ganzen Tag im Wasser, um einen Konflikt zu vermeiden. Bis die Sonne unterging und die Wächter keine Lust mehr hatten zu warten und zu anderen Mitteln griffen. Die unausgesprochene Vereinbarung scheint ganz offensichtlich nicht mehr zu gelten. Das war vor etwa zwei Wochen. Am 17. April 2020.

Bali. Bekannt als Surf- und Inselparadies. Wer die Götterinsel bereits besucht hat, kennt jedoch die verstopften Strassen, den Lärm lauter Motorräder (welche meistens von australischen Jünglingen mit übergrossen Tanktops zur Schau gefahren werden), den Geruch von Abgasen und Räucherstäbchen in der Luft, Hipster-Cafés mit veganen Köstlichkeiten, das Schaulaufen in den neusten Inselkreationen, besoffene Surfer und solche, die es gerne wären. Hier ein «Miiiiiss», da ein «Miiister». Vor allem in der Region um Canggu, einem einst verschlafenen Dörfchen umgeben von Reisfeldern, ist der Touristenzirkus ganz besonders präsent. Vor sechs Jahren noch ein «Geheimtipp». Heute die kleine Schwester von Seminyak. Reisfelder hat es auch nicht mehr viele. Canggu, hier wohne ich. Seit Juli 2019.

In «the Ggu». Solidarität. Hilfsbereitschaft. Die Luft ist rein.
Seit bald zwei Monaten ist die Insel ruhig. Die Strände sind gesperrt, Restaurants und Cafés geschlossen (Take-Away only). Viele Ausländer und Touristen folgten der Aufforderung ihrer Heimatländer und sind abgereist. Gehen oder bleiben? Das Bauchgefühl hat mir geraten zu bleiben. Mein Bauchgefühl täuscht mich selten. Wenn die Welt untergeht, geht sie überall unter. Klar, auch in Canggu. Ein Ort, der gleichermassen geliebt wie belächelt oder sogar gehasst wird. Wie jeder Ort, der polarisiert. Ich liebe den «Ggu». Lieber bleibe ich an einem Ort, wo die Sonne scheint, das Rauschen des Meeres hörbar ist und die Menschen nicht in Panik den Toilettenpapiervorrat der Nation leerkaufen. Es heisst, dass nur noch zwei Prozent der üblichen Touristen sich hier aufhalten. Die Strassen sind so gut wie leer, Kuta eine Geisterstadt. Für viele Balinesen und meiste Geschäfte jeglicher Art, eine finanzielle Katastrophe. Vereinzelte Läden mussten bereits nach wenigen Tagen schliessen und sind leergeräumt. Die Strasse runter zu Oldmans ist nicht wieder zu erkennen. Das Fehlen von feier- und kaufwütigen Touristen ist spürbar. Die Luft ist unglaublich frisch!

Umso spürbarer in der Canggu Community: Die unglaubliche Solidarität, Hilfsbereitschaft und Kreativität von Locals wie Expats, welche sich füreinander einsetzen. Projekte, die Familien finanziell und mit Lebensmitteln unterstützen, werden ins Leben gerufen. Geschäftsmodelle, die lokalen Anbietern eine Plattform für ihre Produkte bieten. Man ist bemüht, sich exakt an Hygienevorschriften zu halten. Wer es sich leisten kann – allen voran die «Expats» – geht für zwei Wochen in Selbstquarantäne. Und die Balinesen? Für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Zu gross ist der Druck, Geld zu verdienen, um die Familie zu ernähren und den Strom zu bezahlen. «Social Distancing» wird mehr oder weniger eingehalten. Vor ein paar Tagen gesteht ein junger Bursche auf Instagram, an seiner Seite der Polizeichef der Region höchstpersönlich, dass es ihm und allen Beteiligten leid tue, dass das anfänglich geplante Abendessen im kleinen Kreis zu einer 100-köpfigen Party eskaliert sei. Dass man sich zukünftig an die vorgeschriebenen Massnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus halten werde und allen empfehle, dasselbe zu tun. Die Idee der balinesischen Regierung, vom 18. bis 21. April eine dreitägige Selbstquarantäne durchzuführen, wird von der Bevölkerung vehement abgelehnt und findet nicht statt. Ein Bekannter, welcher von Uluwatu auf Besuch nach Canggu kommt, ist von der geschäftigen und trotzdem entspannten Stimmung überrascht. Auf der Bukit (Halbinsel im Süden von Bali, bekannt für die Surfstrände Uluwatu und Bingin) herrsche fast schon Krieg! Jeder beobachte jeden, erzählt er. Alles sei geschlossen. Nach sieben Uhr abends solle man nicht mehr auf die Strassen, das Tragen einer Mundschutzmaske sei obligatorisch.

Canggu scheint von seiner sehr bemühten Gemeinschaft getragen zu werden. Täglich kommen neue Regeln dazu, alte werden gelockert. Das Tragen eines Mundschutzes ist noch nicht obligatorisch. Ubud hat eine ganz eigene Strategie entwickelt. Hier hat man Strassensperren errichtet, welche nur mit Maske passiert werden dürfen. Zusätzlich muss man an einem bewachten Posten anhalten, sich unter den strengen Augen des Bewachers die Hände desinfizieren, während das Motorrad mit Desinfektionsspray eingesprüht wird. Jawohl.

Keine Touris. Kein Geld. Hunger. Eigeninitiative.
Ununterbrochen stellen derweil freiwillige Helfer Lebensmittelpakete für in Not geratene Familien und die weniger glücklichen Gebiete auf Bali bereit. Regionen im Norden sind besonders schwer betroffen, da viele darauf angewiesen sind, finanziell von Familienmitgliedern unterstützt zu werden, welche in den sonst touristischen Ortschaften arbeiten. Auf Instagram können Projekte wie @adoptafamily2020, @foodbankco oder @tresnabalicookingschool mit Spenden unterstützt werden. Hier wird jede Spende direkt für Lebensmittel, Medikamente oder andere nötige Dinge eingesetzt. Die Initiativen werden meist von Ausländern, aber auch von Balinesen, die ihre Gemeinschaft unterstützen wollen, vorangetrieben. Schnell hat man gemerkt, dass nur durch Zusammenarbeit Schlimmeres verhindert werden kann und es jetzt vor allem darum geht, die Schwächeren zu unterstützen. Diese Eigeninitiative kommt gut an! Auch bei der Regierung, welche eher damit beschäftigt zu sein scheint, neue Strukturen und Regeln aufzustellen, an welche sich dann doch niemand hält. Ausser natürlich, das Militär kontrolliert die Umsetzung.

Immer diese Surfer.
Währenddessen gibt es immer noch Surferinnen und Surfer (ja, erwischt, ich gehöre auch dazu), die sich trotz klarem Verbot (geschlossenen Stränden, «Social Distancing» und dem Risiko, auf Social Media als egoistisches A****loch blossgestellt zu werden) das Surfen nicht nehmen lassen. Wer sich jetzt aber einsames Surfen in leeren Line-ups vorstellt, hat weit gefehlt. In den frühen Morgenstunden tummeln sich schon mal bis zu 30 Surfwütige bei Airports Left (Name der Welle neben dem Flughafen). Die Stimmung ist meist entspannt. Man ist einfach froh, Wasser und Freiheit auf der Haut zu spüren, bevor man nach Hause fährt, hofft dass einen niemand sieht und danach wieder so tut, als ob man immer schön brav in Selbstquarantäne hockt. Falls nun jemand entsetzt den Kopf schüttelt, über das unverantwortliche Verhalten der ausländischen Surfcommunity in Bali, bitte. Vor ein paar Tagen soll die Polizei am Strand von Kuta Reef auf Surfer gewartet haben. Zehn seien festgenommen worden und das Gerücht um eine mögliche Deportation hält sich hartnäckig. Seit kurzem werden Touristen und Expats gar von lokalen Surfern vertrieben, welche viele Wellen für sich beanspruchen. Wer kann ihnen das schon verübeln?

Chinesen. Herdenimmunität. Alle krank. Beobachtungen.
Eine immer wiederkehrende Frage unter Locals sowie hier lebenden Ausländern ist: Hat das Coronavirus Bali schon getroffen? Oder nicht? Wird es schlimmer? Besser? Sind wir alle zu naiv? Einfach machen, was alle Länder machen? Herrscht hier bereits Herdenimmunität? Ein Fakt, welcher immer wieder gerne genannt wird ist, dass Bali eines der beliebtesten Touristendestination für Chinesen ist. Anscheinend vor allem für chinesische Touristen aus Wuhan. Bali hat erst Anfang Februar komplett alle Flüge von und nach China gestrichen.

Zu Beginn des Jahres 2020 fällt mir auf, dass an vielen Orten in Canggu gehustet und gerotzt wird. Im Café, in der Yogastunde, im «Ecstatic-Dance», im Line-up, auf dem Scooter. Der Vater der Familie, welche meine Wäsche wäscht, klagt über Atembeschwerden und Husten. Er habe das Gefühl, die Luft sei im Moment sehr schlecht. Eine der Strandverkäuferinnen erzählt mir Ende Januar, dass in ihrem Dorf im Norden Massenkremationen stattfinden. Vor allem Ältere sterben. Kürzlich erscheint ein Artikel auf Facebook, geschrieben von einer Balinesin, welche darauf aufmerksam macht, dass Ende Januar in der Schule ihrer Tochter zeitweise nur eine Handvoll Kinder in der Klasse waren. Schüler und Lehrer von einem trockenen Husten und Schluckbeschwerden geplagt wurden, welche sich schnell ausbreitete. Ein Bekannter, welcher zwei erfolgreiche Restaurants in Seminyak führt, klagt Anfang Februar, dass drei Viertel seiner Angestellten krank sei. Alle mit Husten. Dass er viele nach Hause schicken musste, da sie trotzdem zur Arbeit erschienen waren.

Vom 14. bis 29. Februar wird in Bali Galungan und Kuningan gefeiert. Ein hinduistisches Fest, bei dem der Sieg von Gut gegen Böse gefeiert wird. Es werden Rituale und Paraden durchgeführt. Das heilige Wasser, mit welchem Hunderte von Balinesen gesegnet werden, wird nicht gewechselt. Jeder und jede trinkt aus dem gleichen Gefäss. Eine gute Freundin geht Ende Dezember ins Spital, weil sie über massive Atembeschwerden klagt. In meiner Agenda steht, dass ich am 6. Februar einen nervigen Husten bekommen habe, gefolgt von Atem- und Schluckbeschwerden. Bis ich mich wieder richtig gesund fühle, vergeht ein Monat. In meinem Freundeskreis waren zu Beginn des Jahres fast alle krank oder wurden krank, nachdem sie Kontakt mit einer hustenden Person hatten. Niemand hat oder hatte wissentlich Kontakt mit einer Person, welche positiv auf COVID-19 getestet wurde. Dies sind Beobachtungen und Eindrücke der letzten vier Monate hier auf Bali. Es wurde nichts wissenschaftlich nachgewiesen. Jeder und jede soll sich eine eigene Meinung dazu bilden.

Und was jetzt?
Das weiss niemand so genau. Am 24. April wurden alle internationalen und nationalen Flüge gestrichen. Alle Flughäfen und Häfen sind geschlossen. Der Luft- und Schiffsverkehr ist bis aufs absolute Minimum reduziert worden. Offiziell bis am 1. Juni. Visas müssen nicht verlängert werden. Bis auf weiteres dürfen alle bleiben, bis etwas mehr Klarheit herrscht. Am 1. Mai dürfen vereinzelte Geschäfte und Dienstleistungen wieder öffnen. Wann die Strände und somit auch der Surf wieder geöffnet werden, ist unklar. Das gilt auch für die Anzahl getesteter Coronafälle. Niemand weiss so genau, von wie vielen Toten, wie vielen Infizierten und wie vielen Überlebenden ausgegangen werden kann. Fakt ist, die Balinesen kämpfen ums wirtschaftliche Überleben. Ob und wie die Insel und ihre Bewohner diese massiven Krise überleben werden, wird sich zeigen. Doch noch nie habe ich so einen starken Zusammenhalt in einer Gemeinschaft erlebt. Die Mehrheit der Inselbewohner (lokale und zugezogene) übernimmt Verantwortung für sich selbst und andere. Es findet ein Umdenken statt. Die Auswirkungen auf das Land, die Natur, das Meer, die Luft sind deutlich spürbar. Das merken auch die Balinesen. Merkt die ganze Welt.


Folge Kahena auf Instagram
@ibu_kahena